WENN DIE KARTEN NEU GEMISCHT WERDEN
Ein Bild ist mehr als ein Bild, und manchmal mehr als die Sache selbst, deren Bild es ist.
Paul Valéry
So
schreibt Paul Valéry, und seine Überlegung zum Wesen des Bildes trifft
vor allem auf die Fotografie zu. Man kann es rütteln wie man will, die
Kamera ist trotz aller Einwände um die technischen Möglichkeiten, die
digitalen Machenschaften oder die traditionelle Retusche, ein Apparat,
der neben seinem Hang zur Realität auch immer Wünsche, Visionen und
subjektive Eindrücke hervorbringt.
Es
gibt zwei Dinge, die in unserer Kultur und Gesellschaft mit einer
ähnlichen magischen Beweiskraft ausgestattet sind, nämlich die
Unterschrift und die Fotografie. Mit der einen bürgt der Unterzeichner
mit seinem handschriftlichen Namen für die Richtigkeit eines
Sachverhaltes. Kein Dokument hat Gültigkeit ohne diese Signatur, die
bezeugt, daß man wahrhaft etwas in Händen gehalten hat. Die Fotografie
funktioniert da vergleichbar, denn sie erzählt, daß der Gegenstand auf
der Bildfläche zumindest für den Bruchteil einer Sekunde, vor der Linse
anwesend war. Die Fotografie legt fest, daß die Person auf dem Bild sie
selber ist oder der Zustand zu einem spezifischen Zeitpunkt so und
nicht anders ausgesehen hat. Roland Barthes hat das in der Hellen
Kammer ausgeführt, in einer Zeit, als die digitale Fotografie noch
nicht zu denken war. Aber bis heute ist die Vorstellung vom
Belegcharakter des Mediums und die ihrer Authentizität, wenn man so
will, nicht aus unseren Köpfen verschwunden. Antlitz ist ein
schönes, altmodisches deutsches Wort, welches aber wahrscheinlich sehr
bald schon in den Katalog der vergessenen Wörter aufgenommen werden
kann. Heute wird es nur noch selten als Synonym für Gesicht verwendet
und bedeutet in seinem Ursprung auch das Entgegenblickende. Es ist
etymologisch eine Wortmischung aus Sehen und Blicken und trifft damit
den Kern der Portraitfotografie.
Das Selbstportrait ist innerhalb dieses wohl anspruchvollsten Genres
der Fotografie ein besonderes Konstrukt, denn Bildgegenstand und
Bildgestalter sind eins und im Idealfall stimmen im Auge des
Betrachters und des Bildkonstrukteurs Ergebnis und die Vorstellung
davon überein. Der Blick in die Kamera ist gleichzeitig auch ein Blick
auf sich selbst und das erzeugte Bild eine Spiegelung der
Selbstdefinition, der Abdruck von Visionen und Vorstellungen, die der
Fotograf mit seiner Person und seinen Eigenschaften verbindet.
Die
Serie von Selbstportraits ABETTERI ist ein Spiel, in dem Johannes Gramm
die Karten vom fotografischen Selbstbildnis neu gemischt hat. König,
Bube, Dame und deren Attribute - Stärker, Schöner, Jünger - werden
durchdekliniert und facettenreich ausgebreitet. Von brutal bis lädiert,
gezeichnet, tätowiert und gepierct erscheinen die Könige, die ihre
aufrechte und selbstbewußte Stellung nicht aufgeben. Die Frontalität
behalten auch die anderen Figurentypen bei, aber sie verändert sich.
Die Damen, die ihre Blöße nur halb verdecken können, blicken milder und
die angehobenen Schultern sprechen von einer sich selbst schützenden
Haltung. Die jüngeren Buben tragen außer ihren fragenden, unbedarften
Gesichtszügen Frisuren, die in Kombination mit den Gesichtszügen nicht
eindeutig männlich oder weiblich sind. Sie sind noch unversehrt, aber
wohl zu allem entschlossen. Fotografische Selbstportraits als Ort
der Inszenierung, bei denen das Verwandeln vor der Kamera zu einem
Suchen und einer Art Neudefinition der eigenen Person wird, hat
Tradition in der Geschichte der Fotografie. Die Bauhauskünstlerin
Gertrud Arndt (1903 – 2000) erprobt Rollen und Muster des weiblichen
Ausdrucks, indem sie sich mit aufwendigen Spitzen, Stoffen und Hüten
verkleidete. In der Serie von 1930 wird sie das naive, puppenhafte
Mädchen, die mondäne Verführerin, die geheimnisvolle Schöne oder die
strenge Beobachterin. Die französische Künstlerin Claude Cahun (1894 –
1954) ist zugleich Schauspielerin, Fotografin und
Schriftstellerin und inszeniert rund vier Jahrzehnte Rollenmuster und
Positionen vor der Kamera, experimentiert mit sich und den
Möglichkeiten der Fotografie.
Johannes Gramm verfolgt eine vergleichbare Strategie. Er beschränkt
sich nicht auf das Spiel mit Verkleidungen, sondern der Künstler rückt
seinem eigenen Körper bildnerisch zu Leibe. Der König trägt bei ihm
weder Krone noch Zepter, sondern Blessuren, als Verkörperung von Kraft
und Stärke. Und er setzt auf die Wirkungsmacht von tätowierten
Symbolen, auf Slogans wie Love and Hate und dem nach außen getragenem
Schmerzempfinden. Kleider machen Leute, auch in unserer heutigen
Gesellschaft, aber neben den allgemeingültigen Dresscodes, ist der
manipulierte Körper mehr denn je zum Ausdruckmedium der
Selbstdefinition geworden. Und der Weg über die Kamera erlaubt den
Schritt zum Rollentausch der Geschlechter oder der Generationen. Dabei
gibt Johannes Gramm aber nie vor, jemand anderes zu sein als er selbst
– die Fotografie zeigt es uns, wahrheitsliebend wie sie ist. Bei ihm
bleibt es ein Spiel, bei dem man Glück oder Pech haben kann. Und die
Frage, was echt oder erfunden ist, spielt bei der Betrachtung der
Bilder nur eine untergeordnete Rolle, denn es gilt viel mehr, das Bild
als ein solches wahrzunehmen.
Wenn ich mal alt bin, möchte ich nicht so gern allein sein oder Julia und Romeo und Gretel und Hänsel.
Die
fotografischen Doppelportraits zeigen immer ein und dieselbe Person,
mal in kleinen Variationen, mal in unterschiedlichen Ausdrucksmomenten.
Als Betrachter steht man davor und ist geneigt zu vergleichen, sucht
Veränderungen, überlegt mit wie viel Personen man es zu tun hat.
Unerklärlich scheinen die Handreichungen zwischen den beiden Sies oder
Ers. Johannes Gramm referiert auf ein Phänomen, das es so visuell
nicht gibt: Sich selber an die Hand nehmen. Aus Münchhausenerzählungen
kennt man dieses Bild vom Helden, der sich am eigenen Schopfe aus dem
Wasser zieht. Eine Geschichte vom ausdrücklichen Lügenbaron, von der
wir als gebildeter Leser genau wissen, daß sie erfunden wurde.
Insgeheim spielt man aber diese Szenerie durch und kommt zu dem Schluß,
daß es eigentlich keine schlechte Idee wäre und es auch wunderbar sein
könnte, wenn man sich dann und wann selbst an den Haaren aus dem
Schlamassel retten könnte.
Johannes Gramms Serie hat zwei Titel, der Obertitel, referiert auf
Ängste und Traurigkeiten, die heute alltäglich zu sein scheinen. Die
Untertitel entlehnt er gleichbleibend bei märchenhaften Vorbildern und
dem großen aber tragischen Liebespaar, das ohne einander nicht mehr
leben konnte und dem Geschwisterpaar, das fürsorglich auf einander Acht
gibt. Diese literarischen Vorbilder lassen sich so aber nicht in den
Bildern wiederfinden. Zu sehen sind Menschen von heute, mal skeptisch,
mal optimistisch. Die kühle Präsentation der Dargestellten im Studio
versachlicht, mit langen Hosen und kurzen Hemden, macht die Distanz
zwischen der Wunschtraumwelt und der Realität spürbar. Wie schon in der
Serie ABETTERI geht es auch hierbei um genaue Betrachtungsweisen, um
die Abbildhaftigkeit der Fotografie und den Glauben, den wir ihr
schenken.
Man
kann sagen, die Fotografie von Johannes Gramm hängt an der
Wirklichkeit. Sie liebt sie und spielt mit ihr, sucht sich das, was ihr
gefällt, verleibt sie sich ein, ordnet sie neu, stapelt sie in
Schichten auf, legt sie aus, hält sie fest, versucht, sie zu begreifen
und schafft am Ende einen Schein von großer Ähnlichkeit, der aber
letztlich immer wieder Bild heißt.
von Christiane Kuhlmann |
RESHUFFLING THE CARDS
An image is more than just an image, and sometimes it is more than the object of which it is an image.
Paul Valéry
Those
are the words of Paul Valéry, and his reflection on the essence of the
image applies above all to photography. However one looks at it, the
camera is a device which in addition to its propensity to reality
always brings wishes, visions, and subjective expressions to the fore.
This is in spite of all the objections in terms of technical
potentialities, digital manipulations, or traditional retouching.
In
our culture and society, there are two things which are imbued with a
similar magical evidential power, namely a signature and photography.
With the one, the signatory uses his written name to guarantee the
truth of a statement. No document has validity without this signature
which proves that something has truly been held in the hands.
Photography works similarly, because it recounts that the object in the
image was present in front of the lens for at least a fraction of a
second. Photography proves that the person in the image is herself or
himself, or that the state of affairs at a specific point in time had a
certain appearance and no other. This was explained by Roland Barthes
in ‘Camera Lucida’, at a time when digital photography had not even
been conceived of. But even today, the notion of the evidential nature
of the medium and that of its authenticity, as it were, still remain
part of our thinking. ‘Countenance’ is an old-fashioned but
beautiful word; however, before long it will probably be transferred to
the lexicon of forgotten words. Today, it is only rarely used as a
synonym for ‘face’. Its German equivalent, ‘Antlitz’ (also rarely used
nowadays) derives from ‘return of gaze’. Etymologically, it is a
combination of ‘see’ and ‘gaze’, and thus gets right to the heart of
portrait photography.
Within this probably most demanding genre of photography, the self
portrait is a particular construct, because the object and creator of
the image are one and the same, and ideally the result in the eye of
the viewer coincides with the intention of the image’s conceiver. The
gaze into the camera is at the same time a gaze into oneself, and the
image so created is a reflection of self-definition, the expression of
visions and conceptions which the photographer connects with his own
person and his characteristics.
The
ABETTERI series of self portraits is a game in which Johannes Gramm has
reshuffled the cards of the photographic self image. King, Queen, and
Jack, and their attributes – strength, beauty, youth – are gone through
in every aspect, and unfurled in every facet. In states between brutal
and battered, the kings appear drawn, tattooed and pierced, without
abdicating their upright and self-confident bearing. The other
archetypes also maintain their frontality, but they change. The Queens,
who are able only to half cover their nakedness, have a gentler gaze,
and the raised shoulders speak of a self-protective posture. In
addition to their questioning, naive facial expressions, the younger
Jacks have haircuts which in combination with their features are
neither clearly male nor female. They are still undamaged, but
certainly resolute to everything. In the history of photography,
there is a tradition of photographic self portraits as the location for
a mise-en-scène in which the metamorphosis in front of the camera
becomes a search and type of redefinition of one’s own persona. The
Bauhaus artist Gertrud Arndt (1903 – 2000) attempted roles and examples
of female expression, through dressing herself in elaborate laces,
fabrics, and hats. In the 1930 series, she becomes the naïve doll-like
girl, the worldly seductress, the secretive beauty, or the strict
observer. The French artist Claude Cahun (1894 – 1954) was
simultaneously an actress, photographer, and writer, and for four
decades she created role models and poses in front of the camera,
experimented with herself and with the possibilities of photography.
Johannes Gramm follows a comparable strategy. He does not restrict
himself to experimentation with clothes, but instead the artist works
graphically with his own body. With him, the King bears neither a crown
nor a sceptre; instead, as the embodiment of power and strength, he has
wounds. And he avails of the effectiveness of tattooed symbols, of
slogans like ‘Love’ and ‘Hate’, and of the outwardly worn experience of
pain. Clothes make the man, even in our society today, but apart from
the general dress code, the body which has been manipulated has become
more than ever the expressive medium of self-definition. And the path
via the camera allows the step to be made to the role change of the
sexes or of the generations. Here however, Johannes Gramm never
pretends to be anyone other than himself – photography shows us this
because it loves the truth. For him, it remains a game in which one can
have good or bad luck. And the question, ‘What is true and what is made
up?’ has only a subordinate role when viewing the pictures, because it
is much more important to perceive the image for what it is.
When I am old, I do not want to be alone, or Romeo and Juliet or Hansel and Gretel.
The
photographic double portraits always show one and the same person,
sometimes with small variations, sometimes in various moments of
expression. The viewer stands in front of them, and tends to make
comparisons, looks for differences, or considers how many different
people there are. The hands extended between the two Hims or Hers seem
inexplicable. Johannes Gramm makes reference to a phenomenon
which does not exist visually: To take oneself by the hand. This image
of the hero who pulls himself out of the water by his own hair is known
from the tales of Münchhausen. A story from the actual baron of lies,
as a result of which we as educated readers are certain that it was
made up. In secret though, we play out this scene, and come to the
conclusion that it really wouldn’t be a bad idea, and in fact it could
be wonderful if once in a while one could pull oneself by one’s hair
out of the mess.
The series by Johannes Gramm has two titles. The surtitle refers to
fears and sadnesses which today seem to be common. The subtitle has
been borrowed unchanged from fairy tale examples, from the great but
tragic pair of lovers who can no longer live without each other, and
from the brother and sister who tenderly watch over one another.
However, these literary examples cannot be rediscovered ‘just like
that’ in the images. What is visible are people of today, sometimes
sceptical, sometimes optimistic. The muted presentation of the subjects
in the studio creates a reality, with long trousers and short shirts;
it makes the separation between the world of ideal dreams and reality
palpable. As already in the ABETTERI series, this is a matter of
precise modes of observation, of closeness to life of photography, and
of our belief in it.
It
can be said that the photography of Johannes Gramm is connected to
reality. Photography loves and plays with reality, looks for what
pleases it, falls in love with it, reorganises it, stacks it in layers,
interprets it, grasps it, tries to understand it, and in the end
creates a semblance of great verisimilitude, which however is still an
image when all is said and done.
by Christiane Kuhlmann |